Schuld ist ein Begriff, der auch und gerade beim Gedenken an den Nationalsozialismus eine tragende Rolle spielt. „Kollektivschuld“ ist dabei eine Kontroverse, die häufig die Debatte bestimmt. Dürfen wir in Bezug auf die Shoah von kollektiver Schuld sprechen? Existiert etwas Derartiges überhaupt? Schließlich wird der Begriff nicht selten ad absurdum geführt.
Argumente contra Kollektivschuld entstammen einer widersinnigen Scheindiskussion zu einem Vorwurf, der sich an “die Gesamtheit der Deutschen“ richten soll, den es aber tatsächlich nie gab. Stattdessen kam diese – angeblich von den Allierten erhobene – Schuldzuweisung erst im Nachkriegsdeutschland auf. Ziel des Ganzen war dabei unter anderem die Diffamierung der allierten Entnazifizierungspolitik, ihr sollte jegliche moralische Grundlage entzogen werden. Die geradezu obzesessive Abwehr des Kollektivschuldsvorwurfs ging dabei ins Unermessliche: Plötzlich postulierte man sich selbst als Leidtragende eines Unrechtsregimes – und setzte sich in Teilen sogar mit den Opfern der Shoah gleich.
Selbst heute wird das Abwehren einer kollektiven Schuldzuweisung häufig als Markenzeichen von rechtsextremen Kreisen weiter in die Gesellschaft getragen.
Historisch hergeleitet wird die Begrifflichkeit der Kollektivschuld gerne mit der Erbsünde, ein häufig verwendetes Beispiel ist der Mythos um Ödipus. König Ödipus tötet seinen Vater Laios und heiratet seine Mutter Iokaste ohne sich der Identität der beiden bewusst zu sein. Zum Ende der Geschichte muss ganz Theben die Taten des Ödipus sühnen. Mit der Absurdität dieser Geschichte wird die Absurdität des Kollektivschuldvorwurfs im deutschen Kontext begründet. Tatsächlich ist der Vergleich der Tragödie mit dem, was das dritte Reich und seine Unterstützer*innen (ob kollektiv oder nicht) anrichteten, die eigentliche Absurdität. Die Thebaner*innen haben nichts mit dem, was Ödipus zu verantworten hatte, zu tun, was in Hinblick auf den Nationalsozialismus bedeuten würde, dass Hitler (oder einzelne NSDAP-Funktionäre) Ödipus verkörpern, wohingegen Deutschland mit dem unschuldigen Volk von Theben gleichzusetzen wäre.
Diese Theorie würde den Intentionalisten (einer Richtung in der Holocaustforschung) recht geben, die davon ausgehen, dass Hitler als entscheidende Führungsfigur des Nationalsozialismus die vorrangige Schuld inne hat. Tatsächlich – und da sind wir uns wohl einig – sind es sehr viele, denen die Schuld an der Shoah zuzuweisen ist. Inwieweit einige aufgrund bestimmter Handlungsmöglichkeiten “mehr“ und andere dementsprechend “weniger“ schuld sind, spielt an dieser Stelle eine eher untergeordnete Rolle. Die Geschichte des König Ödipus beschreibt eine vollkommen ungerechtfertigte Sippenhaftung, Kollektivschuld in Bezug auf den Nationalsozialismus dagegen bezeichnet die Schuld einer großen Gruppe von Menschen, die vielleicht nicht deshalb schuldig sind, weil sie Deutsche sind/waren, aber sehr wohl deshalb, weil sie im damaligen Deutschland lebten und nichts unternahmen, wegsahen und somit schlecht als pauschal “unschuldig“ bezeichnet werden können, “nur“ weil nicht jede*r aktiv dem dritten Reich diente.
„Schuldig meint dabei Schuld in einem vielfältigen Sinn: die Schuld, weggesehen zu haben, die Schuld, die offensichtlichen Lügen der Nazis geglaubt zu haben, die Schuld, die Straßenseite gewechselt zu haben, wenn einem ein Jude entgegenkam, die Schuld, nicht in jüdischen Geschäften gekauft zu haben, die Schuld, Raubgut und enteignete Waren gekauft zu haben, die Schuld, von Raub und Plünderung der deutschen Soldaten profitiert zu haben, die Schuld, [..], die Schuld, von Hitler fasziniert gewesen zu sein, […] die Schuld, in einer der unzähligen Situationen des Alltags geschwiegen zu haben.“ (Samuel Salzborn)
Kollektivschuld wird gemeinhin und insbesondere in der Wissenschaft als Schuld einer Gruppe von Menschen verstanden, die deshalb schuldig sind, weil sie zu der Gruppe gehören. Die Kollektivschuld der Deutschen in Bezug auf die Shoah dagegen wäre eine gemeinschaftliche Schuld, die darauf beruht, dass ein Großteil der Gruppe sich tatsächlich individuell schuldig gemacht hat. Behauptet wird häufig, dass das Übertragen einer persönlichen Schuld in eine Kollektivschuld einer pluralistischen Gesellschaftsordnung widerspräche.
Ein Kollektivschuldvorwurf verkennt aber keinesfalls die pluralistische Gesellschaft als solche – vielmehr wird hier klargestellt, dass auch eine heterogene Gruppe von Menschen, anerkennend, dass es sich um Individuen handelt, trotzdem nun mal als Gruppe handeln kann und sich auch als solche verantworten muss.
Natürlich verallgemeinert der Begriff – er sagt aus, dass alle Deutschen schuldig waren.
Dass das so nicht zutrifft, ist uns bewusst: jüdische Deutsche, Roma und Sinti, Widerstandskämpfer*innen, … waren Deutsche oder haben in Deutschland gelebt und niemand* kann ihnen die Schuld an der Shoah zuweisen. Das ist uns bewusst und so sollte deutsche Kollektivschuld auch niemals verstanden werden.
Der Begriff der kollektiven Schuld beschreibt etwas, das essentiell für die deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist: Der Mord an unzähligen, bestimmten Gruppen angehörigen Menschen durch – fast – einen Gesamtteil der Gesellschaft, ob durch bewusst unterlassene Hilfeleistung oder im Einzelfall als Resultat der eigenen Hilflosigkeit. Auch, weil die Zurückweisung der Kollektivschuld historisch sowie aktuell oftmals damit verbunden war und ist, die deutsche Schuld insgesamt zu verneinen, sollte man* dem Begriff nicht grundsätzlich die Sinnhaftigkeit absprechen.
Kollektivschuld mag als Begriff für die deutsche Schuld an der Shoah nicht wissenschaftlich korrekt sein. Er sollte aber aufgrund seiner Bedeutung für die alltägliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der eigenen Geschichte keinesfalls geringgeschätzt werden.
Die Frage nach einer rückwirkenden Schuld für die heutigen Generationen ist schwierig zu beurteilen. So erscheint es unsinnig, dass Schuld „vererbt“ werden kann. Dennoch ist die Shoah eine in seiner Organisiertheit und seinem Ausmaßen einzigartige Gräueltat, die im Namen des Staates begangen wurde, in dessen Nachfolger-Staat wir heute leben.
Auch wenn wir nicht diejenigen sind, die damals falsch gehandelt haben, dürfen wir heute nicht diejenigen sein, die die daraus resultierende persönliche Verantwortung von sich weisen. Als Nachkommen der Täter*innen haben viele Menschen in Deutschland zumindest eben diese besondere Verantwortung für die aktuelle und zukünftige Entwicklung in Deutschland. Zu dieser Verantwortung gehört auch, sich der kollektiven Schuld an der Shoah, einer „Schuld, die weit früher beginnt, als beim handgreiflichen Mord“ (Samuel Salzborn), der eigenen Groß- und Urgroßeltern bewusst zu werden und diese aufzuarbeiten.
Tatsächlich ist unsere Verantwortung so groß, dass, „wenn sich derartiges wiederholen sollte, in der Tat jeder von uns mitschuldig sein wird. Das nächste Mal wird man von ‚Kollektivschuld‘ nicht nur sprechen dürfen, sondern sprechen müssen.“ (Günther Anders)
Dieser Artikel wurde von Miene Waziri und Chiara Tummeley aus der Spunk-Redaktion geschrieben.